Arbeitskräftemangel: Bei der Personalsuche ist mehr Flexibilität gefragt

Viele Personalabteilungen haben noch nicht verinnerlicht, dass Fach- und Führungskräfte mit fast allen Qualifikationen ein knappes Gut sind – zumindest spiegelt sich dies nicht in ihrem Verhalten wider. Dieser Auffassung ist Prof. Dr. Georg Kraus, Unternehmensberater, Dozent und Buchautor mit langjähriger Erfahrung.

Herr Prof. Dr. Kraus, Sie fordern, dass die Personalbereiche der Unternehmen noch viel flexibler werden müssen. Warum?

Weil gute Fach- und Führungskräfte aufgrund des demografischen Wandels inzwischen eine echte Mangelware sind und die Anforderungen der Mitarbeiter an ihre Arbeit und Arbeitgeber sich geändert haben. Die Rahmenbedingungen der Personalarbeit haben sich sozusagen fundamental gewandelt.

Können Sie das konkretisieren?

Ja. Nehmen Sie beispielsweise die Personalsuche und -auswahl. Wenn Sie vor 15 oder 20 Jahren die Wochenendausgabe einer überregionalen Zeitung wie der Frankfurter Allgemeinen oder Süddeutschen Zeitung kauften, dann war diese meist mehrere Kilogramm schwer, denn sie enthielt hunderte Stellenanzeigen. Heute umfasst ihr Stellenteil nur noch drei bis vier Seiten, weil die meisten Stellenanzeigen inzwischen im Internet veröffentlicht werden.

Das heißt, die Unternehmen nutzen heute andere Medien und Kanäle zur Personalsuche als damals. Welche sind das?

Neben Stellenportalen auch die sozialen Medien – und zwar abhängig von den Adressaten nicht nur solche Business-Portale wie LinkedIn und Xing, sondern auch Plattformen wie Instagram und Tiktok. Zudem hat die Direktansprache an Bedeutung gewonnen. Unter anderem, weil Plattformen wie Xing, LinkedIn und Gulp eine gezielte Suche und Ansprache von Personen mit einer bestimmten Qualifikation und in einer bestimmten Lebenssituation ermöglichen. Dies ist oft nötig, weil Unternehmen heute aufgrund des allgemeinen Fach- und Führungskräftemangels häufig die Erfahrung sammeln: Wenn wir eine Stellenanzeige schalten, sei es in Print- oder Online-Medien, dann melden sich, wenn überhaupt, nur eine Handvoll Leute. Oft meldet sich sogar kein Bewerber, der dem Anforderungsprofil entspricht. Also müssen die Unternehmen andere Wege beschreiten, um mit den gewünschten Personen in Kontakt zu kommen.

Gilt das auch für die Suche nach Fachkräften?

Ja, und zwar funktions- und branchenübergreifend. Wenn Unternehmen heute einen hochqualifizierten Spezialisten suchen, dann sind wechselwillige Kandidaten oft noch schwieriger zu finden, als wenn es um das Besetzen einer Führungsposition geht. Deshalb nahm und nimmt die Direktansprache gerade bei Spezialisten stark zu – und zwar unabhängig davon, ob Handwerker, Techniker, IT-ler oder Ingenieure gesucht werden.

Genügt es nicht, wenn sich eine geeignete Person bewirbt, wenn ein Unternehmen ohnehin nur eine Stelle zu besetzen hat?

Theoretisch ja, doch nur wenn der Bewerber tatsächlich wechselwillig ist und zum Unternehmen passt. Nicht selten wollen Bewerber aber nur ihren Marktwert ausloten und springen im letzten Moment ab. Immer häufiger treten neue Mitarbeiter ihre Stellen auch gar nicht an.

Warum?

Zum Beispiel, weil ihnen ihr bisheriger Arbeitgeber, wenn er die Kündigung erhält, plötzlich alle Wünsche erfüllt, da er weiß: Das ist meist günstiger als einen neuen Mitarbeiter zu suchen, einzuarbeiten usw. Deshalb ist es immer gut, Ersatz-Kandidaten in petto zu haben. Denn wenn ein Unternehmen die Bewerbungs- und Auswahlprozedur erneut starten muss, dann verstreichen oft viele weitere Monate bis die Stelle endgültig besetzt ist.

Haben die Personalabteilungen sich schon darauf eingestellt, dass sie immer stärker um die Gunst von Mitarbeitern mit gewissen Qualifikationen und Kompetenzen buhlen müssen?

Einige ja, die meisten nein. Vielen Personalabteilungen ist noch nicht klar, dass sie aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen ihre Personalsuche- und -auswahlprozesse grundsätzlich überdenken und zum Teil neu definieren müssen.

Was veranlasst Sie zu dieser Einschätzung?

In der Praxis gehen viele Unternehmen, wenn sie einen hochqualifizierten Spezialisten suchen, noch immer wie in der guten, alten Zeit vor: Sie schalten eine Stellenanzeige – Print oder online. Dann sammeln sie drei bis vier Wochen die eingehenden Bewerbungen. Danach setzen sich die Verantwortlichen zusammen und sichten die Unterlagen, um zu entscheiden, wen sie zum Vorstellungsgespräch einladen, womit eine weitere Woche verstreicht. Danach läuft die erste Gesprächsrunde, die weitere zwei oder drei Wochen dauert. Danach folgt eine zweite Gesprächsrunde mit den ganz heißen Kandidaten. Und, und, und … Das heißt, der letztlich ausgewählte Bewerber erhält nicht selten erst vier bis fünf Monate, nachdem seine Bewerbung beim Unternehmen eintraf, einen Anruf: „Wir stellen Sie ein“. Und die Unternehmen sind dann völlig überrascht und enttäuscht, wenn der Bewerber zum Beispiel erwidert: „Tut mir leid, vor sechs Wochen habe ich einen Arbeitsvertrag bei einem anderen Unternehmen unterschrieben.“

Heißt das, den Unternehmen ist nicht ausreichend bewusst, dass die wirklich guten Kandidaten mit einer gefragten Qualifikation meist mehrere Optionen haben?

Zumindest gestalten sie ihre Personalsuche- und -auswahlprozesse nicht so, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit die Top-Kandidaten für sich gewinnen. Dazu gehört auch, dass ich das Vorstellungsgespräch mit einem heißen Kandidaten, den ich von einem anderen Unternehmen loseisen möchte, auch mal am Wochenende führe. Oder mich ins Auto setze, um mich mit ihm nach Feierabend auf dem halben Weg zu treffen. Diesbezüglich müssen die Unternehmen noch eine viel höhere Flexibilität entwickeln.

An welchen Punkten noch?

Bei der Bezahlung und der Arbeitsvertragsgestaltung; außerdem oft bei den Anforderungen, die sie an den künftigen Stelleninhaber stellen. Denn die „eierlegende Wollmilchsau“, die sich Unternehmen zuweilen wünschen, gibt es auf dem Arbeitsmarkt meist nicht.

Viele Großunternehmen mit einem guten Arbeitgeberimage und hohem Bekanntheitsgrad klagen aber auch, dass sie von einer wahren Bewerbungsflut überschwemmt werden.

Das stimmt. Wenn es zum Beispiel um das Besetzen von Trainee-Stellen, Stellen für Bürofachkräfte, aber auch für Betriebswirte geht, dann werden diese Unternehmen oft geradezu von Initiativbewerbungen überflutet. Denn jeder zweite Stellensucher denkt: Ich bewerbe mich auch mal bei denen – das kostet mich ja nichts außer Zeit.

Weshalb Personen, die sich online bei Unternehmen bewerben, nicht selten nur noch eine automatische Eingangsbestätigung erhalten und dann nie mehr etwas hören.

Ja. Teilweise ist dieses weitgehend automatisierte Bearbeiten der Bewerbungen verständlich und notwendig. Denn die meisten Initiativbewerbungen sind echte Blindbewerbungen. Das heißt, die Bewerber überlegen sich vorab nicht, welche Kompetenzen das Unternehmen eventuell benötigt und ob sie diese haben. Oft sind unter den Initiativbewerbungen aber auch echte Perlen, die bei einer Bearbeitung nach Schema F schlicht übersehen werden. Immer wieder höre ich von Personalberatern und Headhuntern, dass sie, wenn sie eine Person wegen einer vakanten Stelle ansprechen, die Antwort erhalten: „Bei dem Unternehmen habe ich mich vor Kurzem doch erst beworben und erhielt bald darauf ein Standardschreiben als Absage. Jetzt habe ich leider eine andere Stelle.“

Was ist die Ursache dafür?

Die Sachbearbeiter, die die eingehenden Bewerbungen sichten, wissen oft nicht, was das Unternehmen mittelfristig braucht – sie kennen nur die gerade vakanten Stellen. Außerdem können sie gerade bei Spezialisten im MINT-Bereich die Kompetenz der Bewerber oft nicht richtig einschätzen, weil ihnen hierfür das Fachwissen fehlt. Eine weitere Ursache sind die Eingabemasken für die Bewerberdaten auf den Webseiten mancher Unternehmen, bei denen man sich nur noch online bewerben kann. Die ihnen hinterlegten Formulare sind oft so stark standardisiert, dass gerade Spezialisten, deren Kompetenz primär aus einer bestimmten Projekterfahrung resultiert, häufig beklagen: „Ich kann das, was den Wert
meiner Arbeitskraft ausmacht, in den Masken gar nicht zum Ausdruck bringen oder sichtbar machen“. Deshalb sehe ich es eher skeptisch, wenn Unternehmen sich so abschotten. Zumindest für hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte sollten sie auch die klassischen Bewerbungen, und sei es nur per Mail, zulassen. Auch weil dies den Bewerbern stärker das Gefühl vermittelt: Ich werde als Individuum wahrgenommen.

Wie beurteilen Sie mittel- und langfristig die Situation auf dem Arbeitsmarkt?

Der Wettbewerb um gute Fach- und Führungskräfte wird noch viel schärfer werden, da wir schlicht zu wenige Nachwuchskräfte haben und zwar funktions- und branchenübergreifend. Darauf müssen die Unternehmen sich einstellen.

Heißt das auch, dass Sie der Auffassung sind, wenn Unternehmen ihren Personalbedarf nicht mehr decken können, sind sie selbst daran schuld?

Zuweilen ja. Nicht selten stecken hinter diesem Problem Versäumnisse bei der Personalarbeit in der Vergangenheit und eine mangelnde Bereitschaft, neue Wege zu gehen. Doch das ändert sich spürbar, weil der Handlungsdruck so hoch ist und weil in die Personal-Entscheider-Positionen in den Unternehmen immer häufiger Digital Natives rücken, die nicht nur bei Personalsuche und -auswahl, sondern auch der Personalentwicklung bereit sind, neue Wege zu gehen.

Inwiefern auch bei der Personalentwicklung?

Nun, wie viele und wie oft ein Unternehmen neue Mitarbeiter von extern rekrutieren muss, hängt auch davon ab, wie es im Bereich Aus- und Weiterbildung agiert und wie gut es ihm aufgrund seiner Kultur und Personalpolitik gelingt, gute Mitarbeiter an sich zu binden. Deshalb muss, wenn es darum geht, ein attraktiver Arbeitgeber zu sein oder mittel- und langfristig auch zu bleiben, eigentlich die gesamte Personalpolitik auf den Prüfstand – und nicht nur einzelne Prozesse wie die Personalsuche.

Vielen Dank für das Interview.

Zur Person

Dr. Georg Kraus

geschäftsführender Gesellschafter
der Unternehmensberatung
Dr. Kraus & Partner.


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