Ist es mit dem Arbeitsleben vorbei, haben wir die Wahl: Wir können die Dinge laufen lassen. Oder wir sehen zu, dass wir dahin kommen, wo wir wirklich hinwollen. Dieser Beitrag ist ein Plädoyer, Ruhestandsvorsorge nicht auf Rente und Freizeitpläne zu beschränken. Das gilt erst recht, wenn man sein ganzes Berufsleben stets aktiv gestaltet hat.
Vom ersten Schultag bis zur Rente wird das Gros unseres Alltags von außen bestimmt – wann der Wecker klingelt, mit wem wir wie viel Zeit verbringen, welche Themen uns auch nach Feierabend noch beschäftigen, wie viel Urlaub wir haben usw. Über Jahrzehnte füllt die Arbeit das Leben, lotst uns durch den Tag und ist dabei so viel mehr als die Quelle unseres Einkommens – sie spendet Sinn, gibt Sicherheit, ist der Ort sozialer Kontakte und lässt uns Status und Selbstbestätigung erleben. Unsere Arbeit erfüllt uns damit eine ganze Reihe elementarer psychologischer Grundbedürfnisse.
So gesehen sind zwei Dinge nicht verwunderlich: Die meisten Menschen gehen gerne arbeiten und wenn sie damit aufhören, laufen sie Gefahr, in das berühmte Loch zu fallen.
Menschen, die beruflich sehr eingespannt waren, tun sich oft schwer mit dem Neuanfang. Ein möglicher Grund: Wenn wir neben der zeitaufwändigen Arbeit kaum andere Lebensbereiche haben, aus denen wir Selbstwert schöpfen, kann der Wegfall der Arbeit eine Krise auslösen. Die Psychologie beschreibt dies im Modell der Selbstkomplexität: Wer alle Eier in einen Korb legt, ist aufgeschmissen, wenn der Korb runterfällt. Gerade Menschen, die sich stets mit Leidenschaft in ihrem Beruf engagiert haben, sollten früh anfangen, den Ausstieg vorzubereiten, nicht erst ein paar Tage, bevor der Wecker nicht mehr klingelt.
Zwischen Euphorie und Ernüchterung
Oft unterschätzen wir, welch krasser Wendepunkt das Berufsende im Leben ist. Von einem Tag auf den anderen ist jeder Tag wie Sonntag: Man kann ausschlafen und tun, was man will, hat also 100 Prozent freie Zeit, ohne Zweck oder Struktur. Dadurch ergibt sich die großartige Chance, diese neu gewonnene Freizeit selbst mit Sinn, Freude und neuen Aufgaben zu füllen. Selbst wenn man diesen Moment lange erträumt hat, an so viel Freiheit müssen wir uns erst einmal gewöhnen. Wie lange der Übergang vom Beruf in den Rentneralltag dauert, ist unterschiedlich. Klar ist: Es gelingt nicht von heute auf morgen. Auf dem Weg vom alten Leben in die neue Normalität kann es auch mal kräftig ruckeln.
Besonders bunt sind die Fantasien, solange die Rente noch in sicherer Entfernung ist. Im Geist wird schon Skandinavien mit dem Wohnmobil durchreist, die Toskana auf einem Chianti–Wölkchen erwandert, die Alpen mit dem Rennrad überquert usw. Rückt der Tag näher, kommen Zweifel und Fragen auf: Was mache ich den ganzen Tag, wenn ich in Rente bin? Wie wird es ohne die Kollegen sein? Was bedeutet es für meine Partnerschaft, wenn ich oft zuhause bin? Was will ich noch tun in meinem Leben? Wenn ich nicht länger der Geschäftsführer, der Arzt oder der Schreiner bin – was bin ich außerdem noch alles? Was ist dann mein Platz in der Welt? Was gibt meinem Leben Sinn? Sollte ich vielleicht doch noch länger arbeiten?
Vieles spricht dafür, aufkommende Fragen nicht zu ignorieren oder wegzuschieben. Wir sollten sie ernst nehmen und genau hinsehen. Meist sind Fragen bessere Wegweiser als Ratschläge.
Jeder muss sein Glück selbst schmieden
Frühere Generationen sahen das Rentnerleben oft als ein Plateau, zu dem man ein Berufsleben lang hochkraxelt. Wenn man es erreicht hatte, war man am Ende der Reise und konnte das Leben in Ruhe „fertig leben“. Wer heute in Rente geht, hat statistisch gesehen etwa 20 aktive Lebensjahre vor sich. Die wollen gut und sinnvoll gestaltet sein. In Zeiten der Individualisierung, Enttraditionalisierung und Wahlmöglichkeiten sucht man vorgefertigte Antworten auf die Frage, wie man ein glückliches Rentnerleben führt, vergeblich. Wir müssen daher unseren eigenen Weg finden.
Freizeitpläne allein sind nicht genug
Wer sich mit Realitätssinn auf die neue Lage vorbereitet hat, ist klar im Vorteil. Das machen aber längst nicht alle. Einige Menschen verschwenden bis zum letzten Arbeitstag keinen Gedanken an die Zeit danach. Andere gehen mit naiv-romantischen Vorstellungen in Rente, werden von Tiefs und Krisen kalt erwischt. Menschen mit einem fordernden Berufsleben haben oft die illusorische Vorstellung, es stellt sich automatisch Glück und Zufriedenheit ein, wenn nur erst einmal der Stress vorbei ist.
Viele beschränken sich darauf, Freizeitpläne zu schmieden. Die haben aber nur relativ kurze Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit. Zahlreiche Studien bestätigen, wie wichtig es ist, die Zeit nach dem Beruf nicht nur als endlose Freizeitveranstaltung zu sehen. Einfach eine Reise an die nächste zu hängen, reicht für den Ruhestand nicht. Dass Reisen für schöne Erlebnisse, Lebensfreude und Selbstverwirklichung sorgen kann, steht außer Zweifel. Ein grundlegendes Gefühl von Lebenssinn lässt sich damit allein aber kaum gewinnen.
Für einen geglückten Ruhestand gibt es kein Patentrezept. Das zu empfehlen wäre so sinnvoll, als würde man jemandem zu einer Schuhgröße raten. Was man aber sagen kann: Neben guter Gesundheit und einem ausreichenden Einkommen brauchen wir vor allem zwei Dinge – soziale Kontakte und eine sinnvolle Betätigung, also einen guten Grund morgens aufzustehen. Idealerweise ist die eine oder andere Verpflichtung dabei: gesellschaftliches Engagement, die Beaufsichtigung von Enkelkindern oder andere Aktivitäten, die für uns Sinn ergeben.
In der Psychologie beschäftigt sich ein eigener Zweig damit, was Menschen tun können, damit sie sich wohlfühlen. Hier stößt man auf den Namen Martin Seligman, einer der Begründer der Glücksforschung. Seine Quintessenz: Wenn Menschen in ihrem Leben fünf Säulen erfüllen, erleben sie höchstwahrscheinlich großes Wohlbefinden.
Fünf Säulen des Glücks
- Positive Emotionen spüren: Ein zuversichtlicher Blick in die Zukunft und das regelmäßige Erleben positiver Emotionen wie Dankbarkeit, Genuss und Zuneigung sind essenziell für das Wohlbefinden.
- Uns für etwas engagieren: Menschen blühen auf, wenn sie ihre Stärken leben, sich für etwas Großes engagieren und idealerweise auch noch in diesen Aktivitäten aufgehen.
- Gute Beziehungen zu anderen Menschen pflegen: Menschen erleben Glück, wenn sie Teil eines sozialen Netzwerks sind, sich auf andere verlassen können oder ihnen von Nutzen sind. Ob Partnerschaft, Familie oder Freundschaften – positive Beziehungen machen zufrieden wie kaum etwas anderes.
- Sinn im eigenen Tun finden: Wenn wir unsere Stärken für einen höheren Zweck einsetzen, den wir als sinnhaft erleben, ist das ein Booster für das Wohlbefinden.
- Merken, dass wir etwas bewegen können: Die Kür ist, etwas im Leben zu schaffen, was Spuren hinterlässt. Das steigert das Selbstwertgefühl und Wohlbefinden immens.
Informationen in puncto gute Lebensführung im Ruhestand finden sich reichlich. Viele Menschen haben ein großes Wissen, nutzen jedoch ihr persönliches Potenzial und ihre Ressourcen nicht. Ein Neubeginn ist immer auch eine Einladung, sich selbst, die eigenen Wünsche, Stärken und Potenziale kennenzulernen und sich weiterzuentwickeln. Kennen wir uns nicht, riskieren wir, dass wir nur andere nachahmen. Ob unser Leben zu uns passt, wissen wir dann nicht.
Das Berufsende ist nicht der erste Wendepunkt im Leben. Ein Blick in den Rückspiegel ist hier nützlich: Wie sind Sie als junger Mensch die Wendepunkte in Ihrem Leben angegangen? Den Übergang in die weiterführende Schule? Den Wechsel zur Uni oder in die betriebliche Ausbildung? Bestimmt haben Sie nichts dem Zufall überlassen. Im Idealfall haben Sie sich Ihre Potenziale angeschaut und Entscheidungen so getroffen, dass Sie diese entfalten konnten. Am Ende des Berufslebens stehen Sie vor einer vergleichbaren Aufgabe. Auch hier geht es um Potenzialentwicklung, ums Weiterwachsen. Wir entwickeln uns ein Leben lang weiter, auch als Rentner.
Gehen Sie es an: Das 100-Tage-Prinzip
Wenn ich einen persönlichen Rat geben darf: Nutzen Sie die Zeit des Übergangs! Vor uns liegt am letzten Arbeitstag die vielleicht größte Aufgabe, der wichtigste Job, den ein Mensch überhaupt haben kann: Derjenige zu sein, der man ist. Wenn jemand in Politik oder Unternehmen eine herausragende Funktion antritt, dauert die übliche Einarbeitungszeit 100 Tage. Den Neuen wird zum Warmlaufen eine Schonfrist von 100 Tagen zugestanden, in der sie sich mit der Situation vertraut machen können. Niemand erwartet besondere Aktionen und große Taten; es ist eine Zeit zum Beobachten und Pläne machen.
Das 100-Tage-Prinzip passt für den Übergang in den Ruhestand gut als Orientierungszeit, um uns im neuen Alltag umzusehen. Ihre Aufgabe: Finden Sie heraus, was Ihnen wichtig ist und was Sie persönlich brauchen, um sich wohlzufühlen. Lassen Sie sic von Fragen leiten, die Ihr Augenmerk auf Ihre Ressourcen lenken: Wo will ich hin? Was ist mir wirklich wichtig? Was interessiert mich? Was mache ich gut und gerne? Dann gehen Sie es tatkräftig an, Schritt für Schritt.
Ulrike Liebau lebt in Köln und arbeitet als Trainerin, Organisationsberaterin, Autorin und Coach. Mit ihrer Arbeit unterstützt sie einzelne Unternehmer, aber auch größere Organisationen. Einen besonderen Schwerpunkt legt sie dabei auf psychologische, soziologische und systemische Aspekte.
Ulrike Liebau
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