Interview
Zu umfangreiche Aufgaben, Angst vor Fehlern oder ein starker Perfektionismus – die Aufschieberitis oder Prokrastination kann viele Ursachen haben. Ein ausgeprägtes Aufschiebe-Verhalten kann selten allein durch angewandte Techniken überwunden werden. Vielmehr gilt es, sich den damit verbundenen negativen Gefühlen bewusst zu werden und eine eigene Lösungsstrategie zu entwickeln – so die Überzeugung von Beate Remus, systemischer Coach und zertifizierte Transaktionsanalytikerin.
Frau Remus, was bedeutet Prokrastination und wozu kann sie führen?
Wer prokrastiniert, schiebt umgangssprachlich ausgedrückt seine Aufgaben auf. Das ist per se nicht schädlich. Erwächst daraus aber ein ausgeprägtes Aufschiebe-Verhalten, kann das Nachteile haben und sogar schwere Konsequenzen für einen selbst, für andere und das Geschäft mit sich bringen. In einem solchen Fall sind die mehrfach aufgeschobenen Aufgaben mit negativen Gefühlen verbunden, die ein Vermeidungsverhalten auslösen. Passiert das immer wieder, wird daraus ein Verhaltensmuster, das nicht mehr reflektiert wird.
Welche Menschen bzw. Charaktere sind davon besonders häufig betroffen?
Oft sind junge Menschen betroffen, die noch nicht die Kompetenz erlernt haben, sich selbst zu organisieren. Auch bei perfektionistischen Menschen mit einem hohen Leistungsanspruch zeigt sich das Bedürfnis, Ereignisse kontrollieren zu wollen. Diese Kontrollüberzeugung geht mit einer Versagensangst einher. Bevor man sich auf etwas Unsicheres einlässt, das man nicht beeinflussen kann, verschiebt man es lieber. Auch bei Menschen mit niedrigem Selbstwert, z.B. als Folge psychischer Belastungen, kann Prokrastination verstärkt auftreten. Das hat sich in den vergangenen Krisenjahren deutlich gezeigt.
Wie wirkt sich das Aufschiebe-Verhalten im Arbeitsalltag aus?
Aufgaben bleiben liegen, Prioritäten werden nicht gesetzt und oft auch keine Entscheidungen getroffen. Dadurch verzögern sich Projekte und Prozesse, was finanzielle Schäden etwa durch abspringende Kunden mit den einhergehenden Umsatzverlusten nach sich ziehen kann. Auch für den Einzelnen können die Folgen fatal sein: Wer aufschiebt, sucht sich meist Ersatzhandlungen, die zur Überlastung und im schlimmsten Fall zum Burn-Out führen können. Die Führungskraft des von der Prokrastination betroffenen Mitarbeiters vermeidet in vielen Fällen die Konfrontation und ist entmutigt, ihm bestimmte Aufgaben zuzutrauen. Die Aufgaben werden dann an andere verteilt, die diese schneller erledigen. Für den Betroffenen mündet das Erleben dieser Situation oft in einem Entmutigungskreislauf mit zusätzlichem Stress, wodurch das Verhaltensmuster noch verstärkt wird.
Welches Führungsverhalten würde der Prokrastination entgegenwirken?
Anstatt dem Teufelskreis zuzusehen, sollte die Führungskraft frühzeitig in den Dialog mit dem Betroffenen gehen und ihm ein Coaching anbieten. Gemeinsam sollte analysiert werden: Welche Aufgaben lösen das Abschiebeverhalten aus? Sind es z.B. Aufgaben, die dem Mitarbeiter langweilig oder zu umfangreich erscheinen, bei denen er Angst vor Versagen hat oder befürchtet, mit anderen verglichen zu werden? Die Aufgaben im Team umzuverteilen, könnte ein möglicher Lösungsansatz sein. Auch kann die Führungskraft denjenigen dabei unterstützen, klare Prioritäten zu setzen, und mit ihm Ziele vereinbaren, wann welche Teilschritte in einem realistischen Zeithorizont umgesetzt werden sollten. Hier hilft es, zu vermitteln, welche Aufgaben zu welchem Zeitpunkt am wichtigsten sind und auch, wie die Erledigung der Aufgaben zum Erfolg des Teams beitragen kann. Wer das Gefühl hat, dass seine Arbeit einen höheren Zweck erfüllt, kann sich auch eher motivieren, schwierige Aufgaben anzugehen.
Oft hängt das Aufschieben auch mit mangelnden Ressourcen zusammen…?
Das stimmt. In solchen Fällen kann sich eine Tätigkeitsanalyse lohnen. Im Coaching hatte ich den Fall einer engagierten Mitarbeiterin, die doppelt belastet war: Neben ihrer Rolle im Unternehmen hat sie zusätzlich ein berufsbegleitendes Studium absolviert. Sie fühlte sich schuldig, weil sie glaubte, beiden Tätigkeitsbereichen nicht gerecht werden zu können. Die Coachee bekam nun die Aufgabe, 14 Tage lang ihre täglichen Tätigkeiten detailliert aufzuschreiben. Bei der Reflexion mit dem Coach stellte sie fest, dass sie keinerlei zeitliche Ressourcen mehr hatte, insbesondere für die notwendige Erholung. Der Grund dafür war, dass sie regelmäßig die To-dos für das Studium in die Abendstunden verlagerte. Wichtig war für sie die Erkenntnis, dass das Aufschieben nur in der mangelnden Zeit begründet war und nicht in ihrer Person. Als sie sich getraut hatte, das zuzugeben, hatte sie den Kopf frei für ihre eigene Lösung: Sie einigte
sich mit ihrem Arbeitgeber darauf, weniger zu arbeiten und damit bewusst auf Geld zu verzichten.
Was steht Perfektionisten im Weg?
Menschen mit dem Hang zum Perfektionismus wollen keine Fehler machen oder nicht dabei ertappt werden. Wichtig ist, den Betroffenen bewusst zu machen, welche negativen Gefühle, z.B. Ärger oder Scham, dahinterstehen und wie sie sich auf das Aufschiebe-Verhalten auswirken können. Bei einem Fall aus meiner Coachingpraxis mit einem dreiköpfigen IT-Team kam erschwerend hinzu, dass alle drei Perfektionisten waren. So wurden viele Listen gemacht, was alles zu tun ist. Je länger diese wurden, desto weniger trauten sich die IT-ler, das Projekt zu starten, aus Furcht, doch noch etwas vergessen zu haben.
Hürden und Rückschritte sind aber Teil des Prozesses. Wie greifen Sie das im Coaching auf?
Im Coaching gilt es, den Hürden und Ängsten auf die Spur zu kommen. Hilfreich sind an dieser Stelle systemische Fragen; z.B.: Was hält Euch von der Umsetzung ab, und was wäre das Schlimmste, was passieren könnte? Wie könnt Ihr das Projekt in kleine Teilschritte und so aufteilen, dass jeder seine Stärken einbringen kann? Und wer könnte Euch im Prozessverlauf mentalen Support geben? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen brachte das Team dazu, eigene Strategien zu entwickeln und auszuprobieren. Auch das Formulieren von individuellen Erlaubern – also, was erlaube ich mir in der jeweiligen konkreten Situation? – stellte sich in diesem Fall als wirksam heraus und führte zu einer Verhaltensänderung. Heute gelingt es dem Team, Konzepte ohne mehrfachen Review an den Kunden zu schicken. Der Erlauber, den sie einsetzen, heißt: Auch 80 Prozent sind vollkommen ausreichend. Den Erfolg zu würdigen und zu feiern, bestärkt das Team in dieser Haltung.
Was braucht es noch, um die Prokrastination zu überwinden?
Wenn sich die Betroffenen bewusst gemacht haben, wie sie sich ihre Aufgabe so weit wie möglich erleichtern können, ist das ein guter Schritt. Doch es gibt immer wieder Situationen, in denen man dazu neigt, dem Impuls zur Prokrastination nachzugeben. Hilfreich kann hier der hypnosystemische Ansatz sein. Hier geht es darum, sich in die Situation des Aufschiebens hineinzuspüren und das damit verbundene negative Gefühl durch ein positives zu ersetzen. Bezogen auf das IT-Team könnte das Gefühl der Freude, positives Feedback vom Kunden mit der 80-prozentigen Lösung erhalten zu haben, das ursprüngliche Versagensgefühl ersetzen. Wichtig ist, sich dieses positive Gefühl in der jeweiligen Situation immer wieder aufzurufen und es z.B. durch einen Gegenstand oder ein Bild als Repräsentant zu verankern. Durch bewusstes Training wird es nach und nach besser gelingen, die Aufgabe anzugehen und dem Impuls zur Prokrastination nicht nachzugeben.
Welchen Einfluss hat ein gesundes Arbeitsumfeld?
Oft neigen Führungskräfte dazu, den prokrastinierenden Mitarbeiter unter Druck zu setzen oder zu bestrafen, indem sie z.B. anspruchsvolle Aufgaben nicht mehr übertragen. Das ist kontraproduktiv. Stattdessen braucht es eine gute Fehler- und Feedbackkultur, die es der Führungskraft erlaubt, negative Rückmeldung zu geben, verbunden mit der Chance für den Betroffenen, daraus zu lernen. Auch hier sind lösungsorientierte Fragen sinnvoll; z.B.: „Ich sehe, dass Du bestimmte Aufgaben immer wieder aufschiebst. Welche Ressourcen im Arbeitsumfeld kannst Du nutzen und wie kann Dich das Team unterstützen?“ Es gilt, die Situation nicht zu beschönigen, sondern klar auf den Punkt zu kommen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Wenn sich erste Erfolge in der Verhaltensänderung des Mitarbeiters zeigen, sollten Führungskräfte und Kollegen das anerkennen. Wenn Menschen gesehen werden für das, was sie geschafft haben, wirkt das wie ein positiver Verstärker. Die Haltung der Führungskräfte, dass Menschen sich entwickeln dürfen, hat eine bedeutende Schlagkraft gegen Prokrastination.
Vielen Dank für das Interview.
Dipl.-Ing. Beate Remus
Organisationsberaterin und
systemischer Coach
info@remus-consulting.de
www.remus-consulting.de