Selbst die besten GmbHs sind gegen die Folgen des Fachkräftemangels nicht gefeit. Die Gefahr sinkender Produktivität und Rentabilität ist überaus real und verlangt schnelles und beherztes Eingreifen. Vor allem aber sind innovative Strategien gefragt, um trotz der Krise zukunftsfähig zu bleiben.
Während die Politik und die Medien noch vom Mangel sprechen, ist die aktuelle Situation objektiv bereits zur Krise mit Tendenz zur Katastrophe geworden. Zudem fehlen längst nicht mehr nur besser ausgebildete Kräfte, sondern Arbeitnehmer jeder Qualifikationsstufe. Dennoch sind es die Schlüsselpositionen, die einen gefährlichen Mangel an fachlichem Know-how, an Managementkompetenz und Führungsqualität auslösen.
Woran es (unter anderem) liegt
Einer der Hauptgründe dafür liegt in der Demografie. Die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer gehen in Rente und sind weder nach Zahl noch nach Qualifikation angemessen zu ersetzen. In der Folge werden die jungen Generationen Y und Z übermäßig hofiert und die Werte, Leistungen und Erfolge der Generation X damit herabgewürdigt. Schon sprechen die Medien von Altersdiskriminierung, und viele der Brüskierten basteln bereits an diversen Szenarien eines früheren oder eines stufenweisen Ausstiegs. Als Ergebnis dessen explodiert der Skill-Gap: eine kaum reparable Differenz zwischen den gestellten Anforderungen und gebotenen Fähigkeiten am Arbeitsplatz.
Zusätzlich hat die Pandemie veränderte Einstellungen der Menschen zum Sinn und zur Bedeutung ihrer Arbeit provoziert. Im sogenannten „Big Quit“ ziehen sich manche komplett aus der scheinbaren Tretmühle zurück oder streben schon in jungen Jahren Teilzeitmodelle an. Die Fluktuation am Arbeitsmarkt ist enorm hoch und führt dazu, dass immer mehr Kosten für Recruiting und Einarbeitung durch frühe Kündigungen ad absurdum geführt werden.
Zu wenige gehen neue Wege
Wegen dieser und der weiteren Ursachen der Fachkräftekrise sollten mittelständische Unternehmen ihre Recruitingverfahren überdenken. Denn diese stehen mittlerweile nicht mehr nur bei den Kunden, sondern auch bei den Mitarbeitern in harter Konkurrenz untereinander und gegen die Big Player ihrer Branchen.
Praktisch ignorieren aber viele Unternehmen die lange Zeitschiene vom Personalbedarf zur Neueinstellung. Die letzte Fachkräfteengpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit wies eine durchschnittliche Vakanzzeit von 119 Tagen aus. Insofern bedeutet das klassisch reaktive Recruiting das Risiko, durch verwaiste Schlüsselstellen, hektische Fehlbesetzungen oder den überteuerten Einkauf durchschnittlicher Leistung Geld zu verlieren. Nur wer proaktiv und clever agiert, hat Chancen auf Spitzenkräfte überall in der Organisation, die einen bilanzwirksamen Unterschied in den Köpfen und Herzen der Kunden ausmachen.
Talent-Pooling wie in der Champions League
Da sich die Fachkräftekrise selbst unternehmensseitig nicht besiegen lässt, kommt es auf innovative Konzepte an, trotz eines chaotischen Arbeitsmarkts stets über genügend Talente und Topkräfte zu verfügen. Wer überleben will, muss besser oder schneller sein als andere. Überraschenderweise existieren bereits Unternehmen, die passende Methoden jahrelang anwenden. Fußballproficlubs oder Entertainment-Companies wie der Cirque du Soleil machen vor, was auch klassische Unternehmen können. Sie scouten intensiv nach den besten Talenten am Markt und stellen bereits Beziehungen zu geeigneten Kandidaten her, obwohl noch kein akutes Engagement geplant ist. Auf diese Weise entsteht ein Pool wertvoller Optionen, aus dem bei Bedarf Lücken gefüllt oder neue Personalstrategien, etwa die Verjüngung des Kaders, verfolgt werden können.
Dieses Konzept ist nicht nur für Konzerne, sondern auch für mittelständische Unternehmen ein geeignetes Mittel, um jederzeit über einen ausreichend großen und qualifizierten Mitarbeiterstamm zu verfügen. Kleinere Firmen, die eher regional aktiv sind, wählen ihren Einzugsbereich kleiner und agieren stärker lokal, größere spannen ihre Maßnahmen über das ganze Land aus und machen auch an den Grenzen nicht halt.
Was genau sind Talent-Pools?
Talent-Pools sind aus internen und externen Quellen gespeiste Auswahllisten von Kandidaten, die wie im Sport nicht aktuell, aber in der Perspektive tragende Rollen im Unternehmen übernehmen können. Mögliche Szenarien sind nicht nur Einzelfälle, wie die zügige Besetzung von Schlüsselpositionen bei längeren Erkrankungen oder plötzlichen Abgängen. Einen besonders großen Effekt erzielen schnell wachsende Unternehmen, die auf einen regelmäßigen Zugang an starken Kräften angewiesen sind. Dazu gehören auch Firmen mit hoher Fluktuation, zum Beispiel Vertriebsorganisationen und Gastronomiebetriebe.
Mit einer proaktiven Pooling-Strategie beginnt der Talent-Relationship-Prozess nicht jedes Mal neu, wenn die Personaldecke dünner wird. Mit kluger Antizipation, wo und wann regelmäßiger oder kritischer Mitarbeiterbedarf auftritt, werden frühzeitig Kontakte zu talentierten und qualifizierten Kandidaten innerhalb und außerhalb der Organisation geknüpft. Das ermöglicht, im personellen Engpass schnell auf vorqualifizierte Kandidaten zuzugehen, die gerne über einen etwaigen Einstieg sprechen wollen. Wenn ein gut gepflegter interner Talent-Pool besteht, gelingt das sogar noch schneller, weil die Mitarbeiter schon im Haus und bereits evaluiert sind.
Entscheidend ist dabei, interne und externe Kandidaten in ein integriertes Talentmanagement zu überführen und deren Potenziale mit entsprechenden Tools und Assessments nach den gleichen, objektiven Kriterien zu beurteilen. Das interne Pooling und die zugehörige Potenzialanalyse dienen dazu, die schon vorhandenen Talente für künftige Rollen und Positionen fit zu machen und Entwicklungspfade für sie zu schaffen.
Die Wirkung externen Poolings besteht nicht nur in ersparter Zeit und geringeren Kosten in der Rekrutierung. Es sorgt auch für einen interessanten Zugang zu passiven Kandidaten auf dem Arbeitsmarkt und hält auch die Verbindung zu solchen, die in früheren Einstellungsrunden entweder nicht gewonnen oder aber noch nicht berücksichtigt werden konnten. Außerdem verstärkt das Pooling die Position des Unternehmens gegenüber anderen mit hohem Bewerberzustrom und verbessert die Reputation im umworbenen Mitarbeitersegment am Markt.
Gewusst wo: Talente finden und kontaktieren
Ist der Entschluss zum Pooling gefallen, drängt sich sofort die Frage auf, wie die nötigen Kontakte zu beschaffen sind. Wirklich starke Hebel dafür sind die sozialen Medien, obwohl der nötige Einsatz einiges an personellen und/oder finanziellen Ressourcen verlangt. Weitere Optionen sind:
- Die „Zweitplatzierten“ der letzten Einstellungen
- Mitarbeiterempfehlungen
- Netzwerke mit ehemaligen Mitarbeitern
- Karrieremessen/Job-Events
- Externe Empfehlungen
- Vielfaltsinitiativen
Vielfaltsinitiativen sind auf Gruppen vom Menschen gerichtet, die man beim Recruiting nicht automatisch auf dem Schirm hat.
Pipelines und Engagement – so geht es weiter
Selbstverständlich ist es mit dem Pooling allein nicht getan. Das nachfolgende Verfahren auf dem Weg zur Einstellung sind sogenannte Talent-Pipelines, in denen ausgewählte Kontakte auf konkrete Aufgaben angesprochen und in einem Qualifikationsverfahren evaluiert werden.
Die Grundlage für diesen zweiten Prozess stellt ein Dossier dar, das im Rahmen des Poolings erstellt wurde. Es fasst alle Informationen zusammen, die den angefragten Kandidaten für eine spätere Einstellung interessant gemacht haben.
Die damit verbundenen Potenzialanalysen sollten im Idealfall über das klassische Assessment und gängige Testverfahren hinausgehen und sehr viel konkreter auf das individuelle Unternehmen abgestimmt sein. Unterm Strich hängt die gewünschte Topleistung von drei wichtigen Kriterien ab: dem Skill-Fit (Kompetenzen), dem Job-Fit (innere Einstellung, Motivation, Persönlichkeitsmerkmale, ernsthaftes Interesse) und dem Culture-Fit (Passung mit der Kultur, dem Team und den Vorgesetzten). Die konsequente Krönung des Gesamtverfahrens stellt eine ebenso zugkräftige und neuartige Engagement-Strategie dar, mit der wertvolle neue und alte Kräfte langfristig gebunden werden. Sie geht über die Frage einer fairen Bezahlung deutlich hinaus und verzichtet auf Kicker-Tische und anderen Motivationsschnickschnack zugunsten tiefer angelegter kultureller und sozialer Bindung.
Das Ende der Personalsorgen
Das Duo von Pooling und Pipelining stellt einen innovativen und Erfolg versprechenden Weg dar, selbst in der Fachkräftekrise zugleich qualitativ hochwertiges Personal und engagierte Menschen für Firmen zu gewinnen. Dabei lautet das Ziel, die richtige Person zum gemeinsamen Nutzen am für sie richtigen Platz wirksam und zufrieden zu machen.
Entscheidend ist darüber hinaus, im arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsmarkt den Fokus auf die Bewerbung des Unternehmens als begehrenswerte Chance zu richten. Das dauerhaft erforderliche Scouting mag zeitliche und finanzielle Anstrengungen erfordern, amortisiert sich aber in jeder Hinsicht. Es ist der Auftakt zu einem strategischen Beziehungsmanagement, das der ständigen Personalnot ein nachhaltiges Ende bereitet.
Nilgün Aygen
Geschäftsführerin (DACH)
von Profiles International