Neuer Trend Quiet-Quitting? Nicht die Menschen, sondern die Strukturen sind das Problem

Wer minimal engagiert ist und nur Dienst nach Vorschrift macht, wird als „Quiet Quitter“ bezeichnet. Zeigt sich das Schreckgespenst aus den USA auch auf dem hiesigen Arbeitsmarkt? Die Organisationsentwicklerin Tanja Reuther nimmt Stellung dazu.

Handelt es sich beim Quiet-Quitting tatsächlich um einen neuen Trend?

Tanja Reuther: Als neues Phänomen nehme ich es nicht so sehr wahr. Auf der Führungsebene arbeiten viele extrem viel und sind auch sehr leistungsorientiert. Gleichzeitig sehnen sich etliche Menschen unabhängig von Rollen und Alter bereits seit Jahren nach einer besseren Work-Life-Balance. Es zeigt sich, dass sich die Arbeitswelt auch durch die Pandemie verändert hat: Menschen können von überall aus arbeiten, was zu einer stärkeren Entgrenzung von Arbeit und Privatleben und folglich einem höheren Stressempfinden geführt hat.

Die aktuelle Gallup-Langzeitstudie kommt zum Ergebnis, dass fast 50 Prozent der Arbeitnehmer keine emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgeber haben. Gibt es ein Motivationsproblem?

Um das beurteilen zu können, muss man Branchen und Unternehmenskulturen differenziert betrachten. In Sozialunternehmen oder bei Mittelständlern, die ihre Mitarbeiter als wichtigste Ressource anerkennen, sind viele Arbeitnehmer hoch motiviert. Das hat damit zu tun, dass sie ihre Arbeit als sinnstiftend erleben und gerne Verantwortung übernehmen. Viele sind aufgrund zunehmender Arbeitsdichte und Überstunden bei gleichzeitigem Fachkräftemangel überlastet. Ein Widerspruch zu dem Quiet-Quitting-Ansatz ist, dass auch junge Mitarbeiter ein hohes Arbeitsethos haben. Aber sie wollen sich eben nicht mehr aufopfern. Viele wünschen sich Arbeitsbedingungen, die Arbeit und Privatleben miteinander in Einklang bringen.

Dennoch wird der Generation Z häufig nachgesagt, nur Dienst nach Vorschrift zu machen.

Der Wunsch, berufliche und private Ziele zu erreichen, ist bei Vertretern dieser Generation tendenziell stärker ausgeprägt. Viele äußern ihre Wünsche und Erwartungen selbstbewusst und sind bereit, konsequent den Job zu wechseln, wenn diese nicht erfüllt werden. Aber ich teile nicht die Ansicht, dass sie nur Dienst nach Vorschrift machen. Viele sind am Arbeitsplatz sehr engagiert und wollen genauso Karriere machen wie die Generationen zuvor. Studien zeigen, dass es eine steigende Anzahl von Müttern und Vätern gibt, die sich eine frühe Rückkehr aus der Elternzeit wünschen, aber eben zu Bedingungen, die es ihnen erlauben, beide Lebensbereiche zu vereinbaren. Mitunter erfordert das, dass sie eine deutliche Grenze zwischen Berufs- und Privatleben ziehen müssen. Das lässt sich z.B. daran erkennen, dass Mitarbeiter heutzutage nicht unbedingt ans Handy gehen, wenn sie an einem freien Tag einen beruflichen Anruf erhalten. Diese Haltung, gesundheitlichen Problemen vorzubeugen, hängt auch mit Erfahrungen zusammen, die sie mit älteren Kollegen oder den Eltern gemacht haben, nämlich dass ein Hamsterrad aus Stress und Zeitdruck zu Depressionen, Abhängigkeiten und Burnout führen kann. Viele von ihnen ziehen daher schneller die Reißleine, wenn die Arbeitsbelastung zu hoch ist.

Beeinflusst auch der Arbeitnehmermarkt diese Haltung?

Ja, richtig. Viele Mitarbeiter sind heute selbstbewusster, auch in der Äußerung ihrer Bedürfnisse. Gab es früher das Autoritätsverständnis, dass der Chef alles weiß, trauen sich junge Menschen heute mehr zu, sind oft wissbegieriger und durch die neuen Medien auch informierter als früher. Insbesondere in Unternehmen mit agilen Strukturen kommen Mitarbeiter schneller in die Verantwortung. Gleichzeitig müssen sie Entscheidungen treffen, für die sie womöglich noch keine ausreichende Berufs- oder Lebenserfahrung mitbringen. Das kann auch zu einer Überforderung führen. Unabhängig von der Arbeitshaltung unterschiedlicher Generationen zeigt sich, dass sich Menschen im Zuge der sich verändernden Arbeitswelt arbeitnehmerfreundliche Arbeitsbedingungen und Regenerationszeiten wünschen. Dazu gehören vor allem flexible Arbeitszeiten und wenn möglich Home-Office. Die Unternehmen sind daher aufgefordert, ihre Strukturen so zu verändern, dass ihre Mitarbeiter gerne zur Arbeit kommen. Arbeitsbelastungen sollten minimiert werden, damit die Angestellten bis ins hohe Alter gesund bleiben und ihre Aufgaben erfüllen können.

Was müsste sich denn strukturell konkret verbessern?

Viele Mitarbeiter in mittelständischen Unternehmen leiden unter den bürokratischen und mitunter hierarchischen Strukturen. Sie wollen mehr selbst entscheiden, werden aber an der Umsetzung ihrer Ideen gehindert. Auch wünschen sich gerade jüngere Arbeitnehmer, mehr in Kooperation zu arbeiten. Anders als in der Babyboomer-Generation müssen sie sich nicht gegen so viele interne und externe Konkurrenten durchsetzen und wollen tendenziell weniger Einzelkämpfer sein. Sie wollen im Sinne des Kunden stärker an den Schnittstellen mit ihren Kollegen aus anderen Bereichen flexibel zusammenarbeiten. Das erfordert allerdings andere Strukturen. Schaut man sich z.B. den Vertriebsbereich an, soll der Kunde möglichst zum gewünschten Zeitpunkt mit den Produkten versorgt werden, die er braucht. Sind diese allerdings nicht auf Lager, weil der Lagerist dazu angehalten wird, die Lagerkosten gering zu halten, steht das im Widerspruch zur Maxime, den Kunden bestmöglich zu bedienen. Neben einer stärkeren Verzahnung und Digitalisierung der Prozesse entlang der Wertschöpfungskette braucht es daher mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit. Unternehmen mit agilen Strukturen, die bereichsübergreifend und kooperativ am Kerngeschäft arbeiten, sind hier klar im Vorteil.

Neben den Strukturen hat also auch die erlebte Führung einen Einfluss darauf, ob Mitarbeiter loyal oder wechselwillig sind?

Das stimmt. Unternehmen sollten mehr Zeit auf Führung verwenden und in Coachings zur Rollenstärkung und Förderung des Perspektivwechsels investieren. Neben Teambuilding und Konfliktmanagement sind Stärkenorientierung, psychologisches Wohlbefinden und Arbeit, die im Einklang mit persönlichen Werten steht, wichtige Themen, die Führungskräfte fördern sollten. Wichtig ist auch, die Bedürfnisse von Mitarbeitern in unterschiedlichen Lebensphasen anzuerkennen und individuelle, flexible Lösungen zu finden. So sollte in einem Unternehmen mit Schichtbetrieb bei der Dienstplangestaltung darauf geachtet werden, dass Mütter oder Väter eher im Frühdienst arbeiten, wenn sie nachmittags ihre Kinder von der Kita abholen müssen. Auch die Wunschdienste von Mitarbeitern mit pflegebedürftigen Angehörigen gilt es zu berücksichtigen. Es kommt vor allem auf verlässliche Dienstpläne an, die frühzeitig herausgegeben werden sollten. Dann können Mitarbeiter im Bedarfsfall auch Dienste tauschen. Wenn sie die Dienstpläne mitgestalten können und es ein Geben und Nehmen unter den Kollegen gibt, erzeugt das eine hohe Zufriedenheit. Mitbestimmung, Transparenz und Fairness sind die Eckpfeiler einer modernen Personalentwicklung.

Die Fluktuation in vielen Betrieben ist dennoch hoch. Wie könnte die Loyalität gestärkt werden?

Mitarbeiter bedürfnisorientiert und wertschätzend zu führen, ist das eine. Zum anderen sollten Betriebe Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen. Das kann z.B. eine Mentoren-Weiterbildung oder Coaching-Ausbildung für erfahrene Führungskräfte sein. Auch mit dem Konzept des Reverse-Mentorings, bei dem beispielsweise junge Mitarbeiter ihr digitales Wissen an ältere Kollegen weitergeben, machen viele Unternehmen gute Erfahrungen. Nicht immer ist die Weiterentwicklung mit hohen finanziellen Anreizen verbunden. Führungskräfte und Personalverantwortliche sind gefragt, die Bedeutung des Entwicklungsschritts hervorzuheben. Wer z.B. Azubis fördert, trägt zur Qualifizierung und Motivation von Nachwuchskräften bei. Unternehmen tun daher gut daran, ihren Mitarbeitern die Dringlichkeit der Nachwuchsförderung zu vermitteln. Nur wenn qualifizierter Nachwuchs an Bord kommt, kann die zunehmende Arbeitslast bewältigt werden.

Zukunftsforscher gehen davon aus, dass Veränderungen in der Arbeitswelt immer alltäglicher werden. Wie können Unternehmen gut damit umgehen?

Veränderungen sind gekommen, um zu bleiben. Wenn die Unternehmen die Veränderungsbereitschaft ihrer Mitarbeiter stärken, nehmen diese Veränderungen weniger als Bedrohung, denn als Chance wahr. Eine wichtige Rolle spielen Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter darin unterstützen, ausgewogen und im Einklang mit ihren Werten zu leben. Gesundheitsangebote wie etwa Gesundheitstage, Stressmanagement- oder Resilienz-Trainings tragen zudem dazu bei, dass die Qualität der Arbeit und die Leistungsbereitschaft steigen. Das führt bestenfalls dazu, dass die Krankheitstage abnehmen und Mitarbeiter langfristig gesund bleiben. Wenn Unternehmen in eine stabile, gesundheitsfördernde Kultur investieren und die Bedürfnisse unterschiedlicher Generationen berücksichtigen, stärkt das die Loyalität. Und dann brauchen sie sich über Quiet-Quitting keine Sorgen zu machen.

Das Interview führte Annette Neumann, freie Journalistin aus Berlin.

Tanja Reuther

Tanja Reuther ist freie Organisationsberaterin und Gründerin des Projekts „Neuzeit“ in Raubling – mit dem Ziel, aus Umbrüchen Aufbrüche zu machen. Sie begleitet Menschen und Organisationen in Zeiten des Wandels und arbeitet mit ihnen an erfolgreichen Transformationsprozessen.

www.neuzeit.co

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