Wenn die Führungs-Metaphern, die seit Generationen vorherrschend waren, allmählich als überholt bzw. als unzulänglich erscheinen, um die Komplexitäten unserer Zeit zu bewältigen, ist dies offensichtlich ein Zeichen dafür, dass ein Paradigmenwechsel ansteht. Bei der Betrachtung der wohl beständigsten Metapher von der Führungskraft als „Kapitän des Schiffs“ wird deutlich, dass dieses Sprachbild den heutigen Herausforderungen nicht mehr gerecht wird. Inzwischen gibt es zwei neue, von den Erkenntnissen der Netzwerkwissenschaft inspirierte Alternativen, die besser zu unserer sich schnell verändernden Zeit passen.
Die Metapher des Schiffskapitäns spiegelt Eigenschaften wider, die traditionell mit starker Führung verbunden sind: Der Kapitän ist der unangefochtene Herrscher über das Schiff und seine Mannschaft. Er (in der Regel männlich) gibt das Ziel vor, bestimmt den Kurs und übt die höchste Autorität über Entscheidungen und Ressourcen aus. Seine Kommunikation ist prägnant und fokussiert und liefert nur das, was für die betreffende Handlung wesentlich ist. Vor allem zeigt er einen unerschütterlichen Charakter, der bereit ist, das ultimative heroische Opfer zu bringen − d.h., notfalls mit dem Schiff unterzugehen.
Doch die Begrenztheit dieser Metapher wird heutzutage immer deutlicher. Die modernen Herausforderungen – zunehmende Komplexität, Interdependenz und rascher Wandel − erfordern einen grundlegend anderen Führungsansatz. Heute kommt es auf eine Verlagerung von hierarchischer Kontrolle zu kollaborativen Netzwerken, von zentralisierter Entscheidungsfindung zu verteiltem Wissen und von statischen Zielen zu anpassungsfähigen, sich entwickelnden Wegen an.
Für die Bewältigung all dieser komplexen Anforderungen zeichnen sich neue Metaphern ab, welche der vernetzten Natur unserer Zeit entsprechen.
Der Aufstieg der Netzwerkwissenschaft
Die Netzwerkwissenschaft ist eine relativ junge Disziplin, die erst 2005 offiziell anerkannt wurde. Sie hat unser Verständnis von Systemen und Verbindungen grundlegend verändert. Dank der Fortschritte in der Digitalisierung ermöglicht sie den Forschern, Netzwerke mit bisher unerreichter Präzision abzubilden und zu analysieren.
Jedes Netzwerk, egal wie komplex es ist, besteht aus drei einfachen Elementen:
- Knoten: Die Personen bzw. Einheiten innerhalb des Netzwerks;
- Verbindungen: Die Beziehungen zwischen den Knoten;
- Inhalte: Die Informationen, Güter oder Dienstleistungen, die durch das Netzwerk fließen.
Ein Beispiel ist das Postnetz: Die Knoten sind die Absender und Empfänger sowie die Postämter, die den Transport ermöglichen. Die Verbindungen bilden die Transportfahrzeuge. Der Inhalt sind die Briefe selbst.
Die wichtigste Erkenntnis der Netzwerkwissenschaft ist, dass alle komplexen Systeme, also auch Organisationen, nach diesen Netzwerkmustern strukturiert sind. Für Führungskräfte bedeutet dies, dass das Verstehen und Beeinflussen von Netzwerkdynamiken unerlässlich ist, um Veränderungen effektiv zu steuern und voranzutreiben.
Die Metapher der Führungskraft als Gärtner
Eine der treffendsten Metaphern, die sich aus einer netzwerkzentrierten Perspektive ergibt, ist die der „Führungskraft als Gärtner“. Hierbei verschiebt sich die Rolle der Führungskraft von Befehl und Kontrolle hin zu Kultivierung und Pflege. Der Gärtner beginnt mit der Vorbereitung des Bodens und stellt sicher, dass er die notwendigen Nährstoffe enthält, um ein vielfältiges Ökosystem zu unterstützen.
Er wählt die Samen aus und berücksichtigt dabei die Bedürfnisse der einzelnen Pflanzen. Einige Pflanzen brauchen Schatten, andere gedeihen in der prallen Sonne. Manche Pflanzen müssen voneinander getrennt stehen, um Konflikte zu vermeiden.
Sobald die Samen gesetzt sind, sorgt der Gärtner für ausreichend Wasser und Sonnenlicht und entfernt bei Bedarf Unkraut, welches das Pflanzenwachstum behindern könnte. Entscheidend ist, dass der Gärtner keine strenge Kontrolle über den Prozess ausübt. Er akzeptiert die Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit der Entfaltung des Gartens. Einige Pflanzen beginnen vielleicht sofort zu blühen, während andere mehrere Saisons brauchen, um ihr Potenzial zu entfalten. Experimentieren und Anpassen ist der Schlüssel zu einem ausgewogenen und florierenden Garten.
Das letztendliche Ziel des Gärtners ist es nicht, Ergebnisse zu diktieren, sondern die Bedingungen für ein blühendes Ökosystem zu schaffen, das sein Wachstum Jahr für Jahr aufrechterhalten kann.
Diese Metapher betont die Pflege von Beziehungen, die Förderung von Vielfalt und die Akzeptanz von Unsicherheit. In unserer Welt des raschen Wandels und der zunehmenden Komplexität sind Führungskräfte, die sich die Denkweise eines Gärtners zu eigen machen, besser in der Lage, ein Umfeld zu schaffen, in dem konstruktive Zusammenarbeit, Kreativität und nachhaltiges Gedeihen stattfinden können.
Die Metapher der Führungskraft als Akupunkteur
Eine weitere wichtige Erkenntnis der Netzwerkwissenschaft ist, dass die Art und Weise, wie die Knoten innerhalb eines Systems miteinander verbunden sind, dessen Gesamtdynamik bestimmt. Das bedeutet, dass selbst kleine strategische Veränderungen enorme Auswirkungen haben können.
Betrachten wir z.B. die Entwicklung der Kommunikation: Vor den elektrischen Technologien wie der Telegrafie waren Postnetze das wichtigste Mittel der Fernkommunikation. Die Einführung des Telegrafen schuf völlig neue Verbindungen, verkürzte die Kommunikationszeiten drastisch und veränderte die Dynamik des Systems.
Die Metapher der „Führungskraft als Akupunkteur“ konzentriert sich auf diese transformative Kraft von Verbindungen.
Das Sprachbild ist inspiriert von der chinesischen Praxis der Akupunktur. Diese geht davon aus, dass die Lebensenergie auf bestimmten Bahnen durch den Körper fließt und Blockaden Krankheiten oder Ungleichgewichte verursachen können. Akupunkteure identifizieren diese Blockaden und stellen den Energiefluss wieder her, indem sie Nadeln in bestimmte Punkte des Körpers stechen.
In ähnlicher Weise können Führungskräfte in der heutigen vernetzten Welt systemische Veränderungen herbeiführen, indem sie wichtige Verbindungen in ihren Netzwerken identifizieren und beeinflussen. Durch die strategische Schaffung oder Neukonfiguration von Verbindungen können Führungskräfte eine verstärkte Wirkung erzielen und Veränderungen mit minimalem Aufwand ermöglichen.
Ein Beispiel dafür ist Muhammad Yunus, Gründer der Grameen Bank und Pionier der Mikrofinanzierung. Yunus erkannte eine „Blockade“ in den traditionellen Finanzsystemen: Aufgrund fehlender Sicherheiten und konventioneller Bankstrukturen waren Millionen armer Menschen, insbesondere Frauen, vom Zugang zu Krediten ausgeschlossen. Statt zu versuchen, das gesamte globale Finanzsystem zu reformieren, konzentrierte sich Yunus auf eine kleine, gezielte Intervention − die Vergabe von Kleinstkrediten (Mikrokrediten) an Einzelpersonen in ländlichen Gemeinden. Durch diese strategische Anpassung wurden die Verbindungen“ im Finanznetzwerk neu geknüpft und unterversorgte Bevölkerungsgruppen erhielten Zugang zu den Ressourcen, die sie zur Gründung kleiner Unternehmen und zur Verbesserung ihrer Lebensumstände benötigten.
Die von Yunus herbeigeführte Wirkung war transformativ. Indem er an einer entscheidenden Stelle im Finanzökosystem ansetzte, beförderte er einen systemischen Wandel, der sich auf mehrere Bereiche auswirkte − darunter Armutsbekämpfung, Gleichstellung der Geschlechter und wirtschaftliche Entwicklung. Das Modell der Grameen Bank zeigte, wie eine kleine, zielgerichtete Maßnahme tiefgreifende Veränderungen innerhalb eines Systems bewirken kann und wurde zum Vorbild für ähnliche Initiativen auf der ganzen Welt.
Mit der zunehmenden Komplexität des 21. Jahrhunderts muss sich auch unser Verständnis von Führung weiterentwickeln. In diesem neuen Zeitalter geht es nicht mehr darum, von oben herab zu befehlen − es geht darum, die Voraussetzungen für Erfolg zu schaffen und zu pflegen und die bestehenden Verbindungen strategisch so zu gestalten, dass die Systeme gedeihen können.
Die Metaphern der Führungskraft als Gärtner bzw. als Akupunkteur bieten heutzutage passendere und dynamischere Modelle, um Komplexität zu bewältigen, Wachstum zu fördern und den systemischen Wandel voranzubringen.

Jeffrey Beeson ist Pionier für Network Leadership – ein Führungsansatz, der auf die Kraft der Verknüpfungen setzt. Der Strategieund Führungskräfteberater war weltweit für McKinsey und Bain & Company tätig. Als Gründer von Ensemble Enabler befähigt er heute Unternehmen, die Stärken ihrer Mitarbeiter zu nutzen und sich Schritt für Schritt in eine Netzwerkorganisation zu überführen. Der Autor war zudem acht Jahre lang Vorstand der „International Leadership Organisation“.
Weitere Informationen unter: www.networkleadership.eu/de