Wenn uns die letzten Monate eines gelehrt haben, dann Folgendes: Gewiss ist, dass es ungewiss ist. Wie kann es nun in einem Umfeld von Ungewissheit gut gelingen, handlungsfähig zu bleiben? Eins vorab: Handlungsfähigkeit in einem Umfeld von Ungewissheit ist der zentrale Schlüsselfaktor für Unternehmenserfolg in den aktuellen Zeiten.
Die letzten Monate haben gezeigt, dass gerade diesbezüglich Geschäftsführende und ihre Teams gefragt waren. Die wesentliche
Frage ist: Wie konnte und wie kann es weiterhin gut gelingen, die mit der Ungewissheit einhergehende Komplexität zu würdigen, statt zu vermeintlichen Scheinsicherheiten zu greifen und dabei ein Umfeld zu schaffen, in dem gemeinsam gedacht und gehandelt wird?
Geschäftsführende haben in diesem Zusammenhang eine besondere Verantwortung: Zum einen die auch in ungewissen Zeiten glaubhafte Vermittlung eines gemeinsam getragenen Sinns und zum anderen die der Kontextarchitektur. Letzteres bedeutet, zur Komplexität stimmige Rahmenbedingungen zu schaffen. Dies bezieht sich auf Strukturen und Prozesse ebenso wie auf praktizierte Meetingformate, um so ein gemeinsames Wirken in einem Umfeld von Ungewissheit zu ermöglichen.
Komplexität erfordert Agilität. Beschäftigen wir uns mit dem Themenfeld der Agilität, wird schnell deutlich: Der begrenzende Faktor für die Agilität eines Unternehmens ist die Agilität der obersten Führung. Was bedeutet dies nun konkret für die Aufgabe und Rolle der Geschäftsführung in einer Welt, die sich mit dem Akronym VUKA (volatil, unsicher, komplex und ambig) beschreiben lässt?
Meetings als Orte des gemeinsamen Denkens
Zum Unternehmensalltag generell und insbesondere zum Alltag von Geschäftsführenden gehören seit jeher Meetings. Dies galt bereits vor der Corona-Pandemie ebenso wie derzeit in der sogenannten Übergangsnormalität. Blicken wir auf den Tagesablauf von Geschäftsführenden, so finden wir oft ein lückenloses Aufeinanderfolgen von Meetings. Es darf die Frage erlaubt sein, wie arbeitsfähig wir sind, wenn wir ohne Pause von einem ins andere Meeting wechseln. Meetings sind nicht selten begleitet von einer starken Unzufriedenheit hinsichtlich der Verlaufs- und Ergebnisqualität. Hier begegnen wir einem Widerspruch: Gerade GmbHs verfügen häufig über einen geschulten Blick für das Wesentliche und dem damit verbundenen Eindämmen von Verschwendung. Der Meeting-Bereich scheint hiervon allerdings oft ausgeklammert zu sein.
Dabei kann ein Meeting, welches acht der zehn Anwesenden ohne aktive Beteiligung verlassen, ebenso als Verschwendung bezeichnet werden, wie ein Meeting, bei dem die Anwesenden bei aufgeklappten Laptops parallel vermeintlich wichtige E-Mails bearbeiten. Vor allem digitale Meetings, insbesondere wenn auf das Einschalten der Videos verzichtet wird, beinhalten eine besonders starke Einladung, ins Electronic Multitasking abzugleiten. Die hieraus folgende geteilte Aufmerksamkeit ist eine der zentralen Hürden für gemeinsames Denken.
Herausforderung: Vorbildfunktion
Hier ist eine Geschäftsführung gefragt, die sich ihrer Vorbildfunktion diesbezüglich bewusst ist. Für viele Geschäftsführende mit übervollen Kalendern und Mail-Accounts zunächst kaum vorstellbar, geschweige denn umsetzbar.
Die Herausforderung gelingender Begegnung ist branchenübergreifend und gleichzeitig verlangt die Komplexität der zu bearbeitenden Themen mehr denn je gemeinsam wirksam zu sein. Um als Team gut in ein gemeinsam getragenes Handeln zu kommen, wird eine diesbezüglich glaubhafte Haltung der Geschäftsführung und die gemeinsame aktive Beteiligung aller benötigt.
Ein Blick auf die Möglichkeiten hinsichtlich Innovation und kreativer Problemlösung kann hierzu ermutigen. Unternehmen haben ein enorm hohes Potenzial, wenn es gelingt, Innovationen als einen sozialen Prozess zu verstehen.
Zeiten digitaler Zusammenarbeit
Die überwiegende Anzahl der Führungskräfte und Mitarbeitenden haben in den letzten Monaten entscheidende Veränderungen durchlebt. Es gab einen Entwicklungsschub in Richtung Digitalisierung, oft verbunden mit rasantem Ausprobieren und Einsetzen von sogenannten Kollaborationstools (IT-Werkzeuge zur Zusammenarbeit). Einigen Unternehmen ist dabei die regelmäßige Reflexion über das „wie“ in diesen Zeiten der massiven Veränderung gut gelungen. Andere sind abgetaucht in Aktionismus, wieder andere in ein Vakuum/Stille. Gerade in Zeiten der Veränderung, wie der Wechsel hin zur digitalen Führung für viele erlebt wurde, ist das gemeinsame Innehalten verbunden mit der Prozessreflexion, in der agilen Welt auch als „Retrospektive“ bekannt, entscheidend.
Zunächst der Blick auf die Basics: Erfolgreiche digitale Zusammenarbeit benötigt zu allererst das Vorhandensein der notwendigen technischen Voraussetzungen. Hierzu zählen Videotools – die Begegnung ermöglichen – ebenso wie der Einsatz passender Kollaborationssoftware oder aber auch schlicht der Datenzugang für alle Beteiligten. Ist dies gegeben, kann darauf aufbauend der zentrale Türöffner für gemeinsames Denken und Handeln, die ernst gemeinte Partizipation – das Mitgestalten – einsetzen.
Ungewissheit als Rahmenbedingung anerkennen
Gemeinsames Denken und Handeln in VUKA-Zeiten sieht Ungewissheit nicht als vorübergehende Erscheinung, sondern als dauerhafte Rahmenbedingung. Dies erfordert einen geübten Umgang mit Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen und den Mut, auch in einem komplexen Umfeld mit unklarer Faktenlage Entscheidungen zu treffen. Wohl wissend, dass nicht getroffene Entscheidungen ein deutlich höheres Innovationsrisiko bedeuten als eine falsch getroffene Entscheidung. In einem Umfeld, welches durch Ungewissheit geprägt ist,
können die Grundprinzipien der von Saras D. Sarasvathy beschriebenen Denk- und Entscheidungslogik des Effectuation sehr hilfreich sein.
Hier wird nicht versucht, das Unvorhergesehene zu vermeiden, sondern der Zufall als Chance gesehen und Unvorhergesehenes inklusive möglichem Scheitern mitgedacht. Das Agieren unter Ungewissheit ist für viele Mitarbeitende und Führungskräfte eine besondere Herausforderung, denn eine eindeutige Richtungsvorgabe kann vor dem Hintergrund der Ungewissheit meist nicht gegeben werden. Benötigt wird von allen Beteiligten die Bereitschaft iterativ, sprich Schritt für Schritt, vorzugehen. Von Gunther Schmidt auch gerne als „Segeln auf Sicht“ bezeichnet. Hilfreich hierfür sind neben der Risikofreude auch Entscheidungsverfahren, die das Wissen und die Kompetenz aller anwesenden Köpfe nutzen. Ein Beispiel in diesem Feld ist das von Visotschnig und Schrotta entwickelte systemische Konsensieren.
Spielerisch, rebellisch und wagemutig – eine stimmige innere Haltung und Ausrichtung des Einzelnen als Antwort auf die VUKA-Welt
Ein Umfeld von Ungewissheit führt uns in der Regel aus unserer Komfortzone. Gleichzeitig ist dies per se häufig die Einladung für Veränderung und Innovationen. Neues entsteht nicht selten gerade dann, wenn es zunächst vermeintlich sperrig und unbequem scheint. Gelingt das Anerkennen von Ungewissheit anstelle der Verleugnung oder dem ausschließlichen Investieren von Energie in das Aufrechterhalten des Bisherigen, ist ein wichtiger Schritt gemacht. Im Umgang miteinander bedeutet dies gerade bei zunächst verstörenden Äußerungen anderer nachzufragen, mit der Absicht, es wirklich verstehen zu wollen, um somit zu noch besseren Ideen zu kommen.
Ich bleibe also neugierig und schaffe mir ein Forschungsumfeld, welches neue Entwicklungen aktiv einlädt. Gelingt es, kann ich mir mit Leichtigkeit die von Otto Scharmer beschriebenen „Landebahnen für die Zukunft“ bauen.
Ein Werkzeug für alles – nein danke
Schauen wir auf die Herausforderungen der VUKA-Welt, scheint es fast rührend, wie sich das Veränderungstempo und die Komplexität der zu bearbeitenden Themen erhöhen, unser Repertoire ihnen zu begegnen, z.B. in Form der gewählten Meetingformate, jedoch überwiegend unverändert bleibt. Auch in Zeiten digitaler Führung wird
häufig weiterhin nach einer Eins-zu-eins-Übersetzung der analogen Meetingabläufe gesucht. Dabei wirkt es wie eine Selbstverständlichkeit, das eine Meetingformat für die unterschiedlichsten Fragestellungen zu praktizieren. Privat hätten wir zweifelsfrei auch nicht die Idee, mit einem Hammer eine Schraube einzudrehen und anschließend den Abfluss zu reparieren. So führte der Organisationsberater und Systemforscher Peter Senge bereits 1998 aus, dass eine lernende Organisation sinnvollerweise in den eingesetzten Formaten Diskussion und Dialog gleichermaßen trainiert und praktiziert. Übertragen auf virtuelle Meetings bedeutet dies einen Einsatz der unterschiedlichsten Kollaborationstools und die Experimentierfreude hinsichtlich der diesbezüglichen Angebote.
Das vorhandene Potenzial voll ausschöpfen – die Kunst gemeinsam
zu denken
Einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil haben in jedem Fall diejenigen, denen es gelingt, ihr Werkzeug zum gemeinsamen Denken und Handeln an die Anforderungen der VUKA-Welt anzupassen und regelmäßig weiterzuentwickeln. Die aktuellen Herausforderungen im Rahmen der Corona-Pandemie rufen lautstark nach einem aktiven Umgang mit Ungewissheit, der Komplexität nicht ausblendet oder ignoriert, sondern würdigt und mit gezielter Kollaboration begegnet. Dies benötigt aufseiten der Geschäftsführenden eine Haltung, die akzeptiert, dass aufgrund der hohen Vielschichtigkeit, den sprunghaften Veränderungen und den unüberschaubaren Wechselwirkungen die Zeit der einsamen Einzel-Entscheidungen vorbei ist. Gemeinsam denken braucht viele Köpfe.

Gemeinsam Denken – Die VUKA-Welt braucht mehrere Köpfe
1. Auflage, BusinessVillage 2019, 240 Seiten
ISBN: 978-3-86980-470-5
24,95 €

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